Zwei Mütter
Die meisten Kinder sind glücklich eine Mutter zu haben. Ich hatte gleich zwei. Es begann im Jahre 1946. In einem Vorort einer deutschen Großstadt lebte ein Kolonialwarenhändler mit seinen drei Töchtern. Der Sohn war in Rußland verschollen. Entsprechend den Verhältnissen, die in der Sowjetischen Besatzung zone herrschten, führte er die Geschäftstätigkeit fort. Eine der Töchter hatte Verkäuferin gelernt. Sicher setzte der Vater alle Hoffnung darin, daß sie eines Tages den Laden fortführt. Es kam aber anders. Im September des darauffolgenden Jahres bekam sie einen Sohn. .Dieser Nachkomme war ich.. Meine Mutter hatte sich schon vorher eine Bleibe zur Untermiete im Nachbar¬ort gesucht. Ohne Arbeit ging es auch damals nicht. Darum wollte meine Mutter mich in Pflege geben.
So kam ich zu Pflegeeltern, die zu dieser Zeit noch im gleichen Ort wohnten. Sie wollten mich aber für immer haben. Darum mußte meine Mutter eine Verzichts erklärung unterschreiben, dass sie sich bis zu meinem 18.Geburtstag mich nicht nähert.
Die Zeit ging ins Land.. Meine Mutter heiratete, bekam im gleichen Krankenhaus, wo ich geboren wurde,eine Tochter.
Dann zog sie mit ihrer Familie nach Westberlin. Mein Schulanfang rückte näher. Jetzt mußten mir meine Pflegeeltern erklären, warum ich einen anderen Namen trug, als sie.
Meine Pflegemutter fasste den Entschluß, mit mir in den freien Teil Berlins zu fahren und meine Mutter zu besuchen.
Ihr ging es damals gar nicht so gut. Arbeitslosigkeit kannten ja die Leute in der DDR zum Glück nicht. Dabei lernte ich gleich meine Schwester kennen. Langsam vergaß ich den Besuch. Meine leibliche Mutter geriet erst mal immer mehr in Vergessenheit.Dann wurde die Berliner Mauer errichtet. Mit 15 bil¬dete ich mir meine eigend Meinung über dieses Ereignis.
Nach Beendigung der zehnklassigen Oberschule begann ich eine Lehre auf der Stralsunder Werft. Meinen 18.Geburtstag beging ich in dieser Hansestadt. Volljährig war ich zwar, aber die Wehrpflicht stand noch bevor. Bei der NVA waren einem bekanntlich alle Rechte beschnitten. Unter Druck entschied ich mich für eine dreijährige Armeezeit. Das bedeutete auch, dass ich keine Kontakte mit Leuten im freien Teil Deutschlands haben durfte.
Mein Pflegevater war inzwischen verstorben. So besuchte ich während meines Urlaubs meine Pflegemutter. Aber mit ihr über meine leibliche Mütter zu sprechen hatte keinen Sinn. Sie hatte immer noch Angst, dass diese mich ihr wegnehmen könnte.
Eigene Nachforschungen im Westen betreiben durfte ich als unfreier NVA-Angehöriger bei Strafe nicht. So wurde ich ja mal für sechs Monate vom Unteroffizier zum Gefreiten degradiert, weil ich einen Brief an eine Rundfunkstation in Canada über Dritte weitergeleitet hatte.
Meine Pflegemutter hielt die Adresse meiner Mutter wohl behütet.
1968 lernte ich meine erste Frau im Vogtland kennen. Ein Jahr später war die Zeit beim Barras beendet. Zum Jahreswechsel hatten wir uns auch verlobt Meine Pflegemutter war bei dieser Feier auch dabei. Ihr schien das Ganze gar nicht so recht zu sein. Sie wollte eben, daß ich nach dem Kommiß nach Hause komme und für sie sorge.
Ein Jahr später kam unsere erste Tochter zur Welt und wir heirateten. Schließlich faßte ich den Entschluß, meine Mutter zu suchen. Sie sollte auch erfahren, daß sie Oma geworden ist. Meine Nachforschungen begannen im Wohnort meines Großvaters und erstreckten sich weiter bis zum Geburtsort meiner Mutter in Norddeutschland. Das Ostberliner Polizeipräsidium führte mich auf die Spur nach Berlin-West.
Eines Tages erhielt ich dann Post von einem Beamten der Bundespost. Mit der Zeit entwickelte sich ein reger Briefwechsel. 1972 kam unserer Sohn zur Weit. Wegen der beengten Wohnverhältnisse zogen wir in die Mark Brandenburg. Dort besuchte uns meine Schwester.
Zwei Jahre später zogen wir wieder zurück nach Sachsen. Dort besuchte uns meine Schwester mit ihrem zukünftigen Mann. Meine Mutter wurde inzwischen immer kränker.
1983 bekam ich eine Einladung. Der Grund meine Schwester heiratete. Ich stellte einen Antrag beim VoPo-Kreisamt Reichenbach. Nach langen Schikanen wurde mein Ansinnen abgelehnt. Das war die letzte Gelegenheit, um meine Mutter lebend zu sehen. Die Anweisung geschah von Seiten der Stasi. Das konnte ich auch nach der Wende meiner mehr als 60 Seiten zählenden Stasiakte entnehmen.
Es war Ende Juni 1984. Ich befand mich gerade an meinem Arbeitsplatz in einem VEB-Betrieb. Plötzlich ein Anruf von meiner Frau mit der Bitte sofort nach Hause zu kommen. Dort erfuhr ich, dass meine Mutter gestorben war. Schnell alle Formalitäten auf der Polizei erledigen. Viel Hoffnung auf eine Genehmigung hatte ich nicht.
Ich kam vom Behördengang nach Hause. Meine Frau legte mir ein weiteres Telegramm vor. Dieses kam aus dem Ostberliner Randgebiet. Der Inhalt lau¬tete:"Mutti verstorben".
Ich hatte zwei Mütter. Beide sind am gleichen Tag zur gleichen Zeit an der gleichen Krankheit verstorben.
An der Beerdigung meiner leiblichen Mutter durfte ich dabei sein.
PB
Bildtexte:
- Mutti 1974=Meine Mutti Ingeborg
- Pflegemutter= Meine Pflegemutter Else